Naturkultur. Wie Kunst und Wissenschaft voneinander sehen lernen

 

Ich glaube, dass die Weltformel über die Intelligenz der Teilchen zu finden ist.
Gerd Binnig (1)

 

Am 28. April 1784 war die Welt noch in Ordnung. Auch in London war von Klimawandel und globaler Erwärmung noch nichts zu spuren. Nach einem eisigen Winter, in dem sogar die Themse zugefroren war, brach endlich der Frühling an. Ein kalter und verregneter Sommer sollte folgen. Das in Jahrtausenden Eisschicht um Eisschicht gewachsene Gedächtnis der Erde verzeichnete in den ausgedehnten Gletschern noch keine signifikant erhöhte Konzentration der sogenannten Treibhausgase CO₂ und CH₄. An diesem Tag wurde James Watt das Patent für eine entscheidende Verbesserung der Dampfmaschine erteilt. Vom Geist der Aufklarung beseelt, hatte der Schotte die Dampfmaschine zwar nicht erfunden, aber ihren Wirkungsgrad immer weiter erhöht. Jetzt stand dem endgültigen Durchbruch der neuen Technologie nichts mehr im Weg.

 

Doch Watt war nicht nur Praktiker und wusste die Herausforderungen der Thermodynamik zu meistern, sondern wurde von Zeitgenossen auch als Naturphilosoph geschatzt.(2) Allerdings entzog er sich dem Werben, seine Erkenntnisse in philosophischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Das, was er der Welt zu sagen hatte, formulierte er in der nüchternen Sprache seiner Patentschriften. Dennoch durfte der kluge Mann nicht geahnt haben, dass er mit seinem Patent im Jahr 2000 als Kronzeuge eines neuen Erdzeitalters benannt werden wurde, als der Meteorologe Paul Crutzen im mexikanischen Cuernavaca das Anthropozän ausrief. (3)

 

Seit jenem denkwürdigen Apriltag in London sind gut 200 Jahre vergangen, die es erlauben, mit einigem Abstand auf die Ereignisse und ihre Folgen zurückzublicken. Schon im 19. Jahrhundert waren die Kollateralschäden der Wattschen Erfindung und des mit ihr eingeleiteten Industriezeitalters nicht zu übersehen: vergiftete Flüsse, abgeholzte Walder und mit todbringendem Feinstaub belastete Atemluft. (4) Mit der rasanten Verstädterung ging eine Entfremdung der Menschen von der Natur einher, die in der dörflichen Lebenswelt noch allgegenwärtig gewesen war. Als sei die Zerstörung der Natur Voraussetzung fü ihre Wertschatzung, löste die Entwicklung gegen Ende des Jahrhunderts Gegenreaktionen aus. Erste Umweltbewegungen entstanden, Schrebergarten ermöglichten Stadtbewohnern parzellierte Naturerfahrung im Miniaturformat. Ob in den neu gegründeten Wandervereinen oder auch alleine – es wurden dunkle Walder durchmessen und strahlende Gipfel erklommen.

 

Auch der durchtrainierte Künstlerzoologe Ernst Haeckel suchte angesichts der ≫trüben Rauchwolken der Fabriken≪ und eines Daseins im ≫rastlosen Getriebe der Großstädte≪ nach Auswegen und Gegenbildern. (5) Als wolle er sich der Urkraft der schwindenden Natur noch einmal vergewissern, setzte er sich ihren Elementen mit allen Sinnen aus, schwamm täglich und lies sich bei Bergtouren nicht einmal von Ohnmachtsanfallen in der Höhenluft aufhalten. (6) Doch Haeckel beließ es nicht bei der sportlichen Selbsterfahrung, sondern spürte der Natur in Sphären nach, die dem menschlichen Auge bislang verborgen geblieben waren. Hier bahnte sich eine Revolution an, mit der die Grenze des Sichtbaren ausgelotet wurde. Während Mikroskope zuvor anhand von Erfahrungswerten konstruiert wurden, gelang es dem Physiker Ernst Abbe Anfang der 1870er-Jahre, die physikalischen Grundlagen für ihren Bau zu definieren. (7) Dank Abbe war das Sehen jetzt nur noch durch die physikalische Auflösungsgrenze limitiert und nicht mehr durch technische Unzulänglichkeiten.

 

Die Suche nach mikroskopisch kleinen Meeresbewohnern führte Haeckel 1859 zunächst an den Golf von Neapel. Hier lernte er den Maler Hermann Allmers kennen – eine folgenschwere Begegnung. Beide Männer verband auf Anhieb ihre Begeisterung für intensive Naturwahrnehmungen. Gemeinsam bestiegen sie den Vesuv, schwammen im Meer und schufen so die Grundlage für eine lebenslange Freundschaft. (8) Allmers weckte Haeckels Wunsch, sich die Welt als Künstler und nicht mehr als Wissenschaftler zu erschließen. In den folgenden Monaten tauschte er das Mikroskop mit der Staffelei und tauchte in das Universum der Farben und Formen ein. Den besorgten Eltern teilte er mit, er überlege seine wissenschaftliche Karriere nicht weiterzuverfolgen und sich der Malerei zu widmen. Sein Hinweis darauf, dass ihm andere Künstler sein Talent bestätigt hatten, durfte sie kaum beruhigt haben.

 

Auch Haeckel selbst scheinen diese Wohlwollensbekundungen nicht ganz überzeugt zu haben. Vielleicht war ihm auch bewusst, dass die Kunstgeschichte nicht noch einen weiteren Landschaftsmaler brauchte und er einen ungleich wertvolleren Beitrag leisten konnte. Als er sich schließlich entschied, sein Forschungsvorhaben fortzusetzen, blieb er der Kunst dennoch treu und stellte seine künstlerische Begabung in den Dienst der Wissenschaft. Die in Kampanien gesammelten Erfahrungen sollten sich dabei als sehr nützlich erweisen.

 

Haeckels ganze Aufmerksamkeit galt jetzt den winzigen Strahlentierchen oder Radiolarien. Aufgrund ihrer Größe von maximal einem halben Millimeter waren die anmutigen Wesen bis ins 19. Jahrhundert schlichtweg übersehen worden. Erst unter dem Mikroskop offenbarten die Einzeller ihre von symmetrischen Mustern geprägte Schönheit. Zarte Skelette aus Siliziumdioxid lassen sie wie filigrane Glasstrukturen erscheinen. Haeckel war begeistert: In den Symmetrien der Strahlentierchen erkannte er Gesetzmäßigkeiten der Natur, die ihn auch künstlerisch bewegten. Gefesselt von dieser Ästhetik, lies er sich sogar zu einem Klassifizierungssystem hinreißen, das auf der Geometrie der Skelettstrukturen basierte. Für die Radiolarienforschung sollte sich dieser ästhetische Ansatz als schwere Bürde erweisen. Erst hundert Jahre später konnte dieses Hindernis durch eine neue, an die Evolution des Innenskeletts angelehnte Klassifikation überwunden werden. (9) Hier hatte der Künstler gegenüber dem Wissenschaftler die Oberhand gewonnen.

 

Hingerissen von Anmut und Ebenmaß der winzigen Meerestiere spurte Haeckel ihrem Formenreichtum zeichnend und malend nach, um auf diese Weise ≫in das Geheimnis ihrer Schönheit einzudringen≪. (10) Dabei half ihm eine erstaunliche Fähigkeit: Während er mit einem Auge durch das Okular die Radiolarien betrachtete, konnte er gleichzeitig mit dem anderen das Papier fixieren, auf dem seine Zeichnungen entstanden. (11) So war er nicht gezwungen, den Blick abzuwenden, um das Bild aus einer Vielzahl von Gedächtniszeichnungen zusammenzufügen. Vielmehr konnte er die komplexen Zusammenhänge unmittelbar erfassen und zeichnerisch umsetzen. Allerding bestand ein entscheidender Unterschied zur fotografischen Abbildung mit dem Mikroskop vergrößerter Strahlentierchen: Die Bilder nahmen den Umweg über Haeckels Gehirn und trafen hier auf seine Seherfahrungen und ästhetischen Vorstellungen, unter deren Einfluss die optischen Eindrucke künstlerisch überformt wurden. Zwischen die optische Vergrößerung und die Aufzeichnung wurde so eine Art bildgebende Software geschaltet. Zwar wirkten die vergrößerten Radiolarien für Haeckel allein schon wie Kunstwerke (12), doch erst seine aufwendigen Darstellungen erbrachten die entscheidende Transferleistung. Indem er das Gesehene leicht stilisierte, hob er das Ebenmaß hervor. Durch die Betonung ihrer besonderen Ästhetik bereitete Haeckel die Abbildungen der Radiolarien für eine Rezeption auch außerhalb der Naturwissenschaft auf.

 

Nachdem ihm das in der Formenvielfalt der Skelettstrukturen vorhandene Potenzial für die Kunst bewusst geworden war, fragte er zunächst bei seinem Freund Allmers an, ob dieser nicht ≫einen neuen ›Stil‹!! daraus erfinden≪ konne. (13) Da Allmers diese auch etwas scherzhaft gemeinte Anregung nicht aufgriff, nahm Haeckel das Vorhaben schließlich selbst in die Hand.

 

Ab 1899 veröffentlichte Haeckel in mehreren Einzelbanden seine Kunstformen der Natur, die nicht zuletzt aufgrund der Attraktivität der darin enthaltenen Farbtafeln große Popularität erlangten. Mit ihnen brachte er die sich in Symmetrien und Farbharmonien ausdruckende Schönheit der Natur einem breiten Publikum nahe. Allerdings waren die Kunstformen der Natur weit mehr als ein Bildband, der die vom Industriezeitalter unberührt gebliebenen ewigen Gesetze der Natur beschwor, sondern vielmehr ein Praxisbuch, mit dem er sich an Maler, Architekten und Kunsthandwerker wandte. In einem Ergänzungsband der Kunstformen wurden die abgebildeten Organismen nach ästhetischen Gesichtspunkten geordnet und so treffend als Vorbild für die praktische gestalterische Anwendung empfohlen. (14)

 

Tatsachlich gelang es Haeckel, seine Eindrücke aus der Welt der Radiolarien in den Kontext der Kunst einzugliedern. Auf diese Weise wurde er zu einem wichtigen Impulsgeber für die Formensprache des Jugendstils. Besonders nachhaltig inspirierte er den französische Maler und Architekten Rene Binet. In seinen ab 1902 in vier Teilen erschienenen Esquisses decoratives, die auf Haeckels Illustrationen zurückgingen, führte er vor, wie sich aus organischen Strukturen Lichtschalter und Tapetenmuster generieren ließen.

 

Jetzt konnten die von Haeckel künstlerisch aufgewerteten Kreaturen endlich die Meere verlassen. Als elegantes Ornament fand die Natur so zurück in die Städte, wuchs über Fassaden und durch Innenraume. Diese organische Metamorphose lieferte das passende Gegenbild zur mechanischen Unnachgiebigkeit des Industriezeitalters. Auch Haeckels Wohnhaus, die Villa Medusa in Jena, versöhnte in ihrer Gestaltung beide Bereiche. Auf diese Weise wurde der Jugendstil zum künstlerischen Ausdruck des Versuchs, die Entfremdung von Mensch und Natur zu überwinden.

 

In seinen Forschungen hatte Haeckel das große Ganze im mikroskopisch Kleinen gesucht und in einem einzigen Wassertropfen einen Kosmos von Formen gefunden. Dennoch empfand er Unbehagen gegenüber einer Weltsicht, die nicht zuletzt durch neue technische Mess- und Darstellungsmethoden, auf einer immer kleinteiligeren Zerlegung in einzelne Elemente beruhte. Seine Antwort auf diese drängende Frage seiner Zeit lieferte er ebenfalls 1899 mit dem internationalen Bestseller Die Welträthsel. In dem umfangreichen Buch stellte er die Idee des Monismus dem Dualismus von Geist und Materie entgegen und entwarf eine ganzheitliche Philosophie. Haeckels Auffassung, die ≫Einheit der Natur≪ erschließe sich über ihre Ästhetik, (15) lies noch einmal den Künstler in ihm aufscheinen.

 

Der Jugendstil blieb ein Zwischenspiel und vermochte das heraufziehende Industriezeitalter nur vorübergehend auszublenden. Dauerhaft ließ sich die Realität der Industrialisierung nicht mit organischen Formgebungen bändigen. Die neue Epoche verlangte nach einem umfassenden gestalterischen Ansatz. Das erkannte auch der Designer und Architekt Peter Behrens, der zunächst selbst das Lernen ≫von der Natur≪(16) propagiert hatte. So wie der studierte Mediziner Haeckel zu einem wichtigen künstlerischen Impulsgeber geworden war, ohne je eine Kunstakademie besucht zu haben, hatte sich Behrens das Gestalten von Formen und Raumen selbst beigebracht und bezeichnete sich stolz als Autodidakt. (17) Beider Schaffen belegt, dass entscheidende Entwicklungssprunge nicht selten Quereinsteigern vorbehalten bleiben. Als künstlerischem Beirat der Berliner AEG gelang es Behrens ab 1907, das Wesen der industriellen Produktion zu erfassen und in verständliche Formen zu übersetzen. Seine Gestaltungen waren eine ästhetische Analogie zur mechanischen Serienproduktion, die mit den von ihm entworfenen Alltagsgegenstanden im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar wurde. Dabei behielt er die großen Zusammenhange im Blick und zielte darauf ab, ≫durch das Zusammenfuhren von Kunst und Technik Kultur zu schaffen ≪ (18). Die von Behrens geprägte Industriekultur verlieh dem neuen Zeitalter über Jahrzehnte hinweg ästhetische Stabilität.

 

Als wollte sich die Geschichte in dramatisch verstärkter Form wiederholen, wurde die Menschheit gegen Ende des 20. Jahrhunderts von Umweltkatastrophen biblischen Ausmaßes heimgesucht. Sie erschütterten den Glauben an die kulturstiftende Wirkung der Industrie nachhaltig. 1976 wurde das italienische Seveso Schauplatz eines folgenschweren Dioxinunfalls, ab Anfang der 80er-Jahre sickerte das Waldsterben ins Bewusstsein der Menschen, das schwerste Chemieunglück der Geschichte ereignete sich 1984 im indischen Bhopal und 1986 loste schließlich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl einen globalen Schock aus. Wie schon Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Gegenreaktionen, die sich in der Gründung von Umweltbewegungen äußerten. Diese standen jetzt auf einer breiteren gesellschaftlichen Basis und wurden politisch institutionalisiert. Auch der Aktionskünstler Joseph Beuys thematisierte die Umwelt seit den 1970er-Jahren in seinem Werk. Im Sinne seines erweiterten Kunstbegriffs und der Idee der sozialen Plastik wirkte Beuys seit 1979 aktiv am Aufbau der Grünen mit. Seine politische Karriere, in der er sich unter anderem als Ökopopsänger versuchte, verlief glücklos. Trotzdem lieferte er einen wegweisenden Ansatz, indem er Ästhetik mit politischer Definition ins tägliche Leben erweiterte.

 

Zur gleichen Zeit bahnte sich in einem unscheinbaren Labor in Rüschlikon am Zürichsee eine Revolution an, die mit spektakulären Bildern eine neue Sicht auf die Welt ermöglichen sollte. Da die Auflösung der Lichtmikroskope durch die Wellenlange des sichtbaren Lichts beschränkt ist, bestand der nächste Schritt darin, Objekte mit Hilfe von Elektronen abzubilden, die eine deutlich kürzere Wellenlange aufweisen.

 

Anfang der 1930er-Jahre entstanden die ersten Elektronenmikroskope und lieferten Bilder, die dem menschlichen Auge zuvor unzugänglich waren. (19) Allerdings verband Elektronen- und Lichtmikroskope, dass sie keine Auflösung im atomaren Bereich erlaubten. Diesen technischen Darstellungsmöglichkeiten entsprach auch die wissenschaftliche Wahrnehmung von Materie. (20) Genau an diesem Punkt setzten die beiden Physiker und späteren Nobelpreisträger Gerd Binnig und Heinrich Rohrer an, indem sie Materie nicht in geordneten Strukturen, sondern lokal in ganz kleinem Maßstab in den Blick nahmen. Da es keine Methode zur Analyse derart winziger Strukturen gab, sahen sie sich gezwungen, diese selbst zu erfinden. Nach einer sehr kurzen Entwicklungszeit gelang es Binnig und Rohrer 1981 zum ersten Mal, das Funktionsprinzip eines Rastertunnelmikroskops nachzuweisen.

 

Das Rastertunnelmikroskop basiert auf dem quantenmechanischen Tunneleffekt. Es besitzt eine sehr feine Spitze, die im Idealfall nur aus einem einzelnen Atom besteht. Diese Spitze wird in einem festgelegten Raster mit sehr geringem Abstand über die Oberflache des Untersuchungsobjekts geführt. Berührt die Elektronenwolke des Atoms auf der Messspitze die Elektronenwolke eines Atoms auf der Objektoberflache, kommt es zu einem Tunnelstrom. Er ist durch eine zwischen Spitze und Objekt anliegenden Spannung messbar. Über ihre Elektronenwolken sind die Atome so sehr genau lokalisierbar. Da es Binnig störte, dass sich diese Technik auf leitende Materialien beschränkte und für Anwendungen in der Biologie ungeeignet war, entwickelte er in der Folge noch das Rasterkraftmikroskop. (21) Es kommt ohne eine zwischen Probe und Mikroskop anliegende Spannung aus. Rasterkraftmikroskope messen über eine Blattfeder, an der sich eine winzige Nadel befindet, die Anziehungskräfte zwischen zwei Atomen. Jetzt war es sogar möglich, dynamische Prozesse an lebenden Objekten zu untersuchen und tief in die Geheimnisse des Lebens vorzudringen.

 

Leider lieferten die neuen Mikroskope zunächst nur abstraktes Datenmaterial und noch keine eindrucksvollen Bilder. Glücklicherweise begegnen sich, wie bereits bei Haeckel, in der Persönlichkeit Binnigs Wissenschaft und Kunst. Denn Binnig ist nicht nur unkonventioneller Physiker, sondern malt und komponiert Musik. (22) Auch darüber hinaus setzte er sich intensiv mit der Kreativität von Mensch und Natur auseinander, die er als ≫Fähigkeit eines Systems zur Evolution≪ (23) beschrieb. Diese Begabungen halfen ihm bei der Aufbereitung des recht trockenen Ausgangsmaterials. Mit Bleistiftschraffuren, Schere und Klebstoff überarbeitete er die grafisch aufgetragenen Daten, um sie räumlichen Sehgewohnheiten anzupassen und ihre Überzeugungskraft zu steigern. (24) Erst durch ihre gestalterische Überformung wurden sie allgemein zuganglich.

 

Was Binnig jetzt noch fehlte, um sich die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit zu sichern, war eine ≫Killer-Applikation≪. (25) Während die Killer-Applikation bei Haeckel das Siliziumdioxid der Radiolarienskelette war, fanden sie Binnig und Rohrer im Silizium selbst. Als unerlässliches Material für den Bau von Computern stand Silizium im Fokus des anbrechenden digitalen Zeitalters. Zahlreiche Wissenschaftler hatten sich bereits vergeblich an der Entwicklung von Modellen für die Siliziumoberfläche versucht, da sie lediglich auf indirekte Messmethoden zurückgreifen konnten. Binnig und seinen Kollegen gelang es endlich, diese Struktur zu beobachten, ≫und das hat eingeschlagen wie eine Bombe≪ (26).

 

Damit die Darstellung des Modells der Siliziumoberflache zu einer Ikone der Nanotechnologie werden konnte, war wieder gestalterisches Geschick gefragt. Die Messdaten des Mikroskops wurden zunächst als lineare Grafiken auf Karton ubertragen. (27) Entlang der Datenlinien wurden die Kartonbögen dann ausgeschnitten und zu einem Reliefmodell zusammengefugt. Mit der Veröffentlichung des aufsehenerregenden Modellfotos legten
Binnig und Rohrer die Grundlage für die Verleihung des Nobelpreises für Physik im Jahr 1986. (28) Durch die Übersetzung der abstrakten Datenbasis in das Medium der Skulptur und schließlich der Fotografie wurde Materie bis in atomare Dimensionen hinein sicht- und fassbar.

 

Nachdem Binnig und seine Kollegen zunächst versucht hatten, der von den neuen Mikroskopen produzierten Datenflut mit Schere und Klebstoff Herr zu werden, folgten schnell digitale Losungen. Heute ist die bildgebende Software das Herz eines jeden Hightech-Mikroskops und übernimmt auch Prozesse, die zu Haeckels Zeiten noch im Kopf stattfanden. Dabei geht die aktuelle Entwicklung hin zu einer Kombination verschiedener mikroskopischer Techniken. Algorithmen bringen heute aus unterschiedlichen Quellen stammende Datensatze in Korrelation und erzeugen so umfassende Gesamtbilder. Auch im Softwarebereich leistete das kreative Multitalent Binnig mit seiner Firma Definiens Pionierarbeit. Ausgangspunkt war seine Überzeugung, dass ≫Komplexität das größte Problem darstellt, das es heute gibt≪ (29). Um mit Komplexität besser umgehen zu können, entwickelte Definiens zunächst umfassende Simulationen, die ihre Information über die Natur aus Bildern bezogen. Auf diese Weise wurden die Simulationen nicht mühevoll konstruiert, sondern vom Computer selbst erzeugt. Der nächste Schritt war dann die automatische Bildanalyse des Ausgangsmaterials in Gestalt von Satellitenbildern oder auch Computertomografien. Dabei wurde eine neue Qualität der Bildanalyse erreicht, die für Binnig ≫mehr ein Verstehen als ein Analysieren≪ darstellt. (30) Mit der umfassenden Integration von Bildern in automatische Verarbeitungsprozesse entstanden Techniken zum Umgang mit der nicht zuletzt durch die Bilderflut gewachsenen Komplexität. Gleichzeitig scheint in ihnen die Möglichkeit der Intelligenz von Bildern auf.

 

Doch welchen Einfluss haben die neuen Bildwelten auf unsere Zeit? Können sie wie vor gut einhundert Jahren ästhetische Impulse setzen? Tatsachlich gibt es zahlreiche Parallelen zwischen damals und heute. Die Schrebergärten finden ihre Entsprechung im Urban Gardening, Landlustpublikationen bedienen die Sehnsucht nach der untergegangenen dörflichen Lebenswelt. Sogar eine Art neuer Jugendstil ist zu beobachten, der aus der Natur entlehnte Formen feiert. Eindrucksvolles Beispiel ist etwa das von Peter Cook und Colin Fournier geplante Kunsthaus Graz, das mit seiner biomorphen Glashülle an Haeckels Radiolarien erinnert. Auch das während der Olympischen Sommerspiele von 2008 weltweit in den Medien präsente Nationalstadion in Peking, von Jacques Herzog und Pierre de Meuron, verabschiedete sich mit seiner organisch gewobenen Struktur von der mechanischen Rationalität des Industriezeitalters. Dennoch ist nicht zu erkennen, dass sich diese Ansätze zu einem einheitlichen Stil verdichten. Die Bilder aus den Hightech-Mikroskopen legen ganz andere Schlüsse nahe, die nicht an bestimmte Ornamentformen gebunden sind.

 

Durch die Bilder der Tunnel- und Kraftmikroskope werden die fliesenden Übergange zwischen der den Menschen vertrauten Welt und der Quantenmechanik sinnlich erfahrbar. Selbst unterschiedliche Zustände von Atomen lassen sich mit ihnen noch in Echtzeit beobachten. Wie bereits für Watt und Haeckel gehören auch für Binnig ≫philosophische Erwagungen≪ (31) zu seiner Arbeit als Physiker. Interessant ist dabei, dass Binnig bei der Auseinandersetzung mit der in immer kleinere Teile zerlegten Welt zu ähnlichen Schlüssen kommt wie Haeckel. Auf der subatomaren Ebene erkennt Binnig die großen Zusammenhänge und hält es für vorstellbar, ≫dass auch Elementarteilchen eine gewisse Intelligenz≪ besitzen. (32) Es ist die auf der Quantenmechanik basierende Entsprechung für den Naturbegriff der Monisten, die den Menschen als eins mit der Natur sahen. Für Binnig ist der Mensch nicht Partner, sondern ≫Teil der Natur≪. (33) Damit stutzen die dem Anthropozän mit Mikroskop, Zeichenstift oder Schere abgerungenen Bilder kybernetische Vorstellungen von Wechselwirkungen und Ruckkoppelungen zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen Tier und Mensch, Natur und Kultur. Vielleicht gelingt es, aus diesem Verständnis heraus Formen zu erschaffen und mit Sinn zu füllen, die in Analogie zur Industriekultur von Behrens die Vision einer Naturkultur greifbar werden lassen. (34) Wie sich diese in die Lebenspraxis unserer Epoche integrieren ließe, führte bereits Beuys vor. Ob diese Epoche dauerhaft den Namen des Menschen trägt, bleibt abzuwarten. Wir werden nie wissen, in welchem Zeitalter wir lebten

 

1 Gerd Binnig im Interview mit Marc Gänsler vom 18. August 2010. In: Drillingsraum, S. 4: http://www.drillingsraum.de/gerd-binnig/gerd-binnig-1.html (31. 10. 2018).
2 Andrew Carnegie: James Watt. New York 1905, S. 74.
3 Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer: »The ›Anthropocene‹.« In: IGBP Newsletter, Nr. 41, Mai 2000, S. 17–18.
4 Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang: George Perkins Marsh: Man and Nature. Or, Physical Geography as Modified by Human Action. London 1864. Marsh beeinflusste etwa John Muir, einen Naturschutzpionier und Stammvater des Nature Writing in den USA.
5 Ernst Haeckel: Wanderbilder. Nach eigenen Aquarellen und Ölgemälden. Die Naturwunder der Tropenwelt. Ceylon und Insulinde. Gera-Untermhaus 1905, Vorwort (o. S.).
6 Ernst Haeckel: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern. 1852/1856. Leipzig 1921, S. 194; Ernst Haeckel: Berg- und Seefahrten. 1857/1883. Leipzig 1923, S. 46.
7 Ernst Abbe: »Beiträge zur Theorie des Mikroskops und der mikroskopischen Wahrnehmung.« In: Archiv für mikroskopische Anatomie. Band 9, Nummer 1, Dezember 1873, S. 413–468.
8 Ernst Haeckel: Italienfahrt. Briefe an die Braut. 1859/1860. Leipzig 1921, S. 69, 77 und 116–120; Rudolph Koop: Haeckel und Allmers. Die Geschichte einer Freundschaft in Briefen der Freunde. Bremen 1941.
18 Peter Behrens: Über die Beziehungen der künstlerischen und technischen Probleme. Berlin 1917, S. 21; vgl. zur Industriekultur auch: Tilmann Buddensieg und Henning Rogge: Industriekultur. Peter Behrens und die AEG. 1907–1914. Berlin 1978.
19 Ernst Ruska: »Das Elektronenmikroskop. « In: Zeitschrift für Physik, 78, 1932, S. 318–339.
20 Binnig: Interview mit Marc Gänsler, S. 2; Gerd Binnig: Aus dem Nichts. Über die Kreativität von Natur und Mensch. München / Zürich 1989, S. 56–60 und S. 295.
21 Binnig: Interview mit Marc Gänsler, S. 2.
22 Binnig: Aus dem Nichts, S. 14 und S. 286.

23 Ebd., S. 143.
24 Jochen Henning: »Die Versinnlichung des Unzugänglichen – Oberflächendarstellungen in der zeitgenössischen Mikroskopie.« In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der frühen Neuzeit. München 2006, S. 106.
25 Binnig: Interview mit Marc Gänsler, S. 2.
26 Ebd.
27 Cyrus C. M. Moody: Instrumental Community. Probe Microscopy and the Path to Nanotechnology. Cambridge Massachusetts 2011, S. 55.
28 Gerd Binnig, Heinrich Rohrer, Christian Gerber und Edmund Weibel: »7 × 7 Reconstruction on Si(111) Resolved in Real Space.« In: Physical Review Letters, Band 50, Nr. 2, 1983, S. 120–123.
29 Binnig: Interview mit Marc Gänsler, S. 1.
30 Ebd., S. 3.
31 Binnig: Aus dem Nichts, S. 284.
32 Binnig: Interview mit Marc Gänsler, S. 4.
33 Binnig: Aus dem Nichts, S. 16.
34 Naturkultur unterscheidet sich hierin von dem durch Donna Haraway geprägten Begriff der Naturecultures.

 

Der Aufsatz voin Matthias Pabschb erschien erstmals in der Zeitschrift "Dritte Natur. Technik - Kapital - Umwelt" im Verlag Matthes & Seitz, Berlin im Februar 2020; Copyright: Matthias Pabsch, 2020

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